8.VERTEIDIGER UND WEISE

Emotionale Intelligenz im Kontext aktiver Traumatisierung und Unterdrückung

image Gerechtigkeit ist Liebe im öffentlichen Leben – so wie Zärtlichkeit Liebe im Privatleben ist.«

Dr. Cornel West

DIE NATUR KANN UNS VIEL DARÜBER LEHREN, wie das Leben funktioniert. Wenn wir der Flora, der Fauna und den Jahreszeiten um uns herum genügend Aufmerksamkeit schenken, stellen sich unweigerlich Einsichten über unser eigenes Leben, unsere Beziehungen und die Natur des Daseins ein. Nichtmenschliche Tiere zu beobachten kann besonders aufschlussreich sein, wenn es darum geht, unsere eigenen Motive und Prozesse zu verstehen. Unser Gehirn unterscheidet sich in Wirklichkeit gar nicht so sehr von dem ihren. Wir alle haben ein archaisches limbisches System, das für unsere defensive Kampf-oder-Flucht-Reaktion verantwortlich ist. Alle Primaten haben auch einen Neokortex, der stark daran beteiligt ist, ein ausgeprägtes Gespür für soziale Verbundenheit und angemessenes Verhalten hervorzubringen. Der Hauptunterschied zwischen Menschen und den meisten anderen Primaten besteht darin, dass wir einen viel weiter entwickelten Neokortex haben als sie. Hast du dich jemals gefragt, warum Hunde im Vergleich zu Katzen eine viel expressivere Persönlichkeit und in gewisser Weise sogar etwas wie Sinn für Humor haben? Das liegt zum Teil daran, dass Hunde einen stärker entwickelten Neokortex haben. Wie merkwürdig, dass sie trotzdem – ähem – die unterlegeneren Geschöpfe von beiden sind (nur ein Scherz, nur ein Scherz!).

Wenn wir in Bezug auf menschliches Verhalten eines verstehen müssen, dann ist es das: Unser Gehirn und unser Körper sind eigentlich nicht wirklich für das 21. Jahrhundert ausgelegt. Wir sind darauf ausgelegt, Jäger und Sammler zu sein. Für eine nomadische Lebensweise sind wir besser gerüstet. Unser Verstand und unser Körper haben alles, was sie brauchen, um mit Situationen fertigzuwerden, die zwar im Vergleich zum modernen Leben einfacher, aber mit viel mehr Gefahren verbunden sind: gefährliche Raubtiere erkennen, einen geeigneten Unterschlupf finden, Gruppen, die wir nicht kennen, abwehren … Die emotionalen Reaktionen, die mit einem solchen Leben einhergehen, sind viel intensiver als das, was die meisten von uns brauchen, um sich in unserer heutigen Welt zurechtzufinden.

Das limbische System, das an allen Aggressions- und Gewalthandlungen beteiligt ist, ist im Grunde ein primitives »Wesen«. Für unsere Zwecke bezeichnen wir diesen Teil unseres Gehirns hier als »den Verteidiger«. Der bekannte Neuropsychiater DAN SIEGEL sagte einmal während einer Schulung, dass wir uns, wenn wir wütend werden, die Wut einer Fischmutter vorstellen können, die vor 500 Millionen Jahren in einem Teich in einer Höhle lebte und ihre Eier vor einem Raubtier schützen wollte. Wir können den Kampf-oder-Flucht-Mechanismus, den unsere defensiven Teile anwenden, als etwas sehen, das die Kraft einer halben Milliarde Jahre Evolution hinter sich hat. Er ist uralt, aber er ist stark.

Der Neokortex ist der Sitz unseres Mitgefühls, unseres ethischen Empfindens, unserer Willenskraft, Persönlichkeit und Problemlösungsfähigkeit sowie des Identitätsbewusstseins und des Gefühls der Verbundenheit mit anderen. Er ist einem Buddha etwas näher – sanft genug, um die angeborene Kostbarkeit allen menschlichen Lebens zu schätzen und mit anderen verbunden zu sein; stark genug, um die Gezeiten des Lebens zu überstehen. Er ist wie ein Weiser – selbstbewusst genug, um sich und seinen Wert zu behaupten; aufrichtig genug, um selbst dann das Richtige zu tun, wenn niemand zuschaut. Er ist auch der evolutionär jüngste Teil des Gehirns. Mit anderen Worten, der weise Neokortex muss die schiere Leistungskraft, die der Verteidiger – das limbische System – schon hat, erst noch entwickeln. Obwohl diese beiden Teile des Gehirns funktional eng miteinander vernetzt sind, finde ich es hilfreich, beide voneinander abzugrenzen, um zwei diametral entgegengesetzte Arten emotionaler Reaktionen zu beschreiben.

Niemand hat mich mehr über diese beiden Arten emotionaler Reaktionen gelehrt als EMMA GOLDMAN und HENRY LEE, meine beiden Katzen (zur Information: HENRY LEE ist nach dem metaphysischen Song von NICK CAVE und PJ HARVEY benannt, nicht nach dem Serienmörder). Die meiste Zeit sind sie Schmusekatzen. Versuch ruhig mal, Katzen zu finden, die noch verschmuster sind als meine – es wird nicht klappen. Dennoch beobachte ich die seltsame Metamorphose, die sie jeden Tag als Reaktion auf spezielle starke Reize durchlaufen: Schon das leiseste Knistern einer Tüte mit Katzenleckerlis, und sie verwandeln sich.

Sind sie in ihrem natürlichen Zustand, dann sind sie entspannte, friedliche, schnurrende, schmusebereite Pelzbabys. Doch sobald du die Katzenleckerlis herausholst, werden sie zu Desperados – gesetzlosen Banditen. Ihre Verteidiger leuchten auf. Im Bruchteil einer Sekunde sind sie hibbelig, gedankenvoll, ängstlich. In Lichtgeschwindigkeit fressen sie hektisch alles, was ich ihnen zuwerfe. Sie drangsalieren sich auch gegenseitig und konkurrieren um mehr. Und wenn die Leckerli-Zeit vorbei ist, scannen sie wachsam den Boden – könnte ja sein, dass doch noch etwas da ist. Man sollte meinen, sie würden mir als Leckerli-Austeiler etwas Anerkennung schenken. Aber wenn ich nach der Leckerli-Zeit versuche, sie zu streicheln, springen sie von mir weg, als wäre ich eine Bedrohung. Wenn sie schließlich begreifen, dass es keine Leckerlis mehr gibt, verlassen sie den Raum.

Das hat mich früher immer völlig verwirrt. Blitzschnell gehen wir von einem Moment der Verbundenheit in einen Leckerli-Wahn über, und dann wenden sie sich gegen mich. Was hat das nur zu bedeuten?

SICHERHEIT, BELOHNUNGEN UND ZUGEHÖRIGKEIT

AUF DER NEUROLOGISCHEN EBENE werden wir Menschen von drei grundlegenden Dingen angetrieben, die wir brauchen, damit es uns gut geht: Sicherheit, Belohnungen, die positive Gefühle in uns auslösen, und Zugehörigkeit. Diese intrinsischen zentralen Motivationen korrelieren mit drei Abschnitten des Gehirns: Hirnstamm, Mittelhirn und Neokortex. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir in Sicherheit sind und unsere Grundbedürfnisse befriedigt werden, dann hängt das mit dem Hirnstamm zusammen. Wenn in einer Situation Belohnungen vorhanden sind – etwa wenn wir etwas Neues lernen, einer erfüllenden Arbeit nachgehen oder an den Strand fahren, um die Sonne und die Wellen zu genießen –, hängt das mit Bereichen des Mittel- und Zwischenhirns zusammen. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir dazugehören, wenn wir mit anderen verbunden sind und uns gesehen, geschätzt und verstanden fühlen, dann hängt das mit dem Neokortex zusammen. Das Leben, das uns alle durchströmt, richtet sich fortwährend in diese Richtungen aus, so wie eine Pflanze immer zur Sonne hin wächst. Selbst diejenigen, die ihren Hass äußern und üble Gewalttaten begehen, glauben, sie müssten dies tun, um in Sicherheit zu sein (denk an Neonazis, die »Juden raus« skandieren), um belohnt zu werden (denk an in- und ausländische Terroristen, die glauben, ihnen würde im Himmel besonderer Lohn zuteil) oder um dazuzugehören (denk an CHARLES MANSON und seine Anhänger, die sich selbst »Familie« nannten).

Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist für EMMA und HENRY grundsätzlich gewährleistet: Sie (fr)essen besser als ich (Sicherheit), wir spielen oft (Belohnung) und bei uns zu Hause wird viel »geköpfelt« (Zugehörigkeit). Diese Voraussetzungen führen bei ihnen fast automatisch zu einem psychischen Zustand, der wissenschaftlich als »Schmusekatzen«-Zustand bekannt ist. Aber täusch dich nicht: So oft wir Menschen auch darüber fantasieren, dass wir gern ein Katzenoder Hundeleben hätten, das Leben eines Tieres ist voller Ängste. In diesen Katzen sind wildere Instinkte fest verankert, die darauf ausgelegt sind, mit enormer Unsicherheit und Ungewissheit fertigzuwerden. In der Wildnis müssen fleischfressende Tiere jedes Mal, wenn sie hungrig werden, ein anderes Lebewesen jagen und fressen. Und sie sind der ständigen Bedrohung ausgesetzt, selbst bei lebendigem Leibe gefressen zu werden.

Überdies sind EMMA und HENRY Katzen aus dem Tierheim, gerettet aus den Straßen von New York City. Ihre frühesten Erfahrungen waren Nahrungsknappheit und eine fehlende schützende Unterkunft. Daher assoziieren sie mit Fressen – sogar mit Katzenleckereien – Überleben. Sie hören das Rascheln jeder Tüte im Haus, in der ein Leckerli sein könnte, und sofort kommen ihre inneren Verteidiger zum Vorschein. In solchen Momenten sind sie buchstäblich andere Wesen – ambivalent in Bezug auf unsere Verbundenheit, wie ein Laser nur auf eine Sache konzentriert: Hol dir den Leckerbissen! Friss die Leckerlis! Leckerlis!! Moment – keine Leckerlis mehr da? Wir verschwinden. Du bist für uns gestorben, Alter.

Wie die Sozialreformerin DOROTHEA DIX einst schrieb: »Wer hungrig ist, will keinen Kuss.« – Dasselbe gilt für uns Menschen. In dem Maße, wie wir das Gefühl haben, dass wir in Sicherheit sind, dass das Leben grundsätzlich gut ist und wir dazugehören (was das Gefühl umfasst, relativ wertvoll zu sein, gut genug zu sein, gesehen, gehört und respektiert zu werden und zu »zählen«), können wir nach Belieben im Zustand des »Weisen« bleiben. Sind diese Grundbedürfnisse jedoch nicht ausreichend erfüllt, geraten wir in Stress, und dann gewinnen tendenziell unsere entwicklungsgeschichtlich sehr alten Impulse die Oberhand. Stress reißt uns buchstäblich mit sich in einem unbewussten Prozess, der keinen Raum dafür lässt, Dinge zu hinterfragen oder sich in andere einzufühlen. Vielmehr verdinglicht unser Gehirn Menschen bzw. Lebewesen und Erfahrungen, und zwar in eng gefassten Gegensatzpaaren wie »sicher versus unsicher« und »wir gegen sie«. Im System der inneren Familie werden einige Verteidiger-Teile von uns tatsächlich »Feuerwehrleute« genannt. Man kann sich solch reaktive Verteidiger so vorstellen, dass sie ganz plötzlich eingreifen und gut ausgerüstet sind, um eine heldenhafte Arbeit zu leisten, aber nicht so viel Zeit zum Nachdenken haben. Schließlich brennt ein Gebäude.

Bitte bedenke all das, wenn wir nun eine wahre Geschichte durchgehen (wobei alle persönlichen Details geändert wurden, um die Vertraulichkeit zu wahren).

EMOTIONALE RESILIENZ IM ZUSAMMENHANG MIT ARMUT

Triggerwarnung:
Gewalt und Tod von Kindern

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DER HOHE NEUROLOGISCHE PREIS, den Dauerstress fordert, ist der Grund dafür, dass Armut eine der traumatisierendsten Bedingungen ist, unter denen ein Mensch leben kann. Man kommt nie aus dem Überlebensmodus heraus. Obwohl ich nicht aus eigener Erfahrung über die tiefsten Tiefen der Armut und des Rassismus schreiben kann, muss ich doch berichten, was ich in jenen Tagen gesehen habe, als ich mich bemüht habe, Menschen in einer solchen Situation beizustehen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dies vielleicht die radikalste und allgegenwärtigste Form des Terrorismus ist, die es gibt. Um ehrlich zu sein: Ein Teil von mir bezieht die folgende Geschichte mit ein, um die Verbindung zwischen elenden Umständen und unseren Gefühlen verständlicher zu machen; ein anderer Teil von mir tut es aus der Überzeugung heraus, dass solche Geschichten in den Mittelpunkt gerückt werden müssen, wenn es uns ernst damit ist, unsere innere Arbeit damit zu verbinden, auch für andere da zu sein und Anteil zu nehmen.

Zwei Jahre lang führte mich meine soziale Arbeit mit Kindern regelmäßig in Wohnprojekte in New York City. Was ich dort sah, räumte all meine noch bestehenden Vorstellungen darüber aus, dass wir doch in einer integrierten Gesellschaft leben. Zu sehen, wie riesige, fast zur Gänze nichtweiße Communities abgeschnitten in einer parallelen, nicht gleichberechtigten Gesellschaft lebten, sprengte die Grenzen meines akademischen, rein theoretischen Verständnisses dessen, wie systembedingte Unterdrückung funktioniert. Versteh mich nicht falsch, ich bin in den Projekten vielen Menschen begegnet, die unermüdlichen Glauben und Hoffnung verkörperten, Liebe ausstrahlten, mir Freundlichkeit entgegenbrachten und das Leben feierten. Dennoch ist es eine Sache, das Konzept der Marginalisierung theoretisch zu verstehen; eine ganz andere hingegen, sich den Menschen in ihrer Marginalisierung, in die sie gezwungen worden sind, anzuschließen; und wieder eine ganz andere, in ihrem Zuhause als Betreuer mit ihnen zu arbeiten. Technisch gesehen war ich da, um zu helfen. Auch von dem her, was ich wollte, war ich da, um zu helfen. Ehrlich betrachtet war ich jedoch ein weiterer Fremder, dem viel Autorität zugestanden worden war, um ihnen ihr Leben zu diktieren.

Die Polizeipräsenz in den Projekten war stark. Blendend helles Flutlicht umgab viele Gebäude und wurde die ganze Nacht angelassen. Dort lernte ich, dass emotionale Resilienz für die gutherzigen Menschen, denen ich dort meistens begegnete, nicht bedeutete, Bewusstheit für Körper und Geist zu entwickeln. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass sie versuchten, so gut wie möglich für ihr Leben und ihre Familie zu sorgen und gleichzeitig die Augen für die ganz realen Gefahren um sie herum offenzuhalten.

Als ich zum ersten Mal eine Familie in meiner neuen Rolle als Sozialarbeiter besuchte, informierte mich die Kollegin, die mich schulte, dass dort wenige Tage zuvor ein etwa fünf- oder sechsjähriges Mädchen in einem Treppenhaus ermordet worden war. Der Mörder war immer noch auf freiem Fuß.

Wir klopften an die schwere Stahltür der Einzimmerwohnung. Ein fünfjähriges Mädchen, das wir BETTY nennen werden, öffnete die Tür. Sie berichtete innerhalb weniger Minuten nach unserer Ankunft noch einmal von der schrecklichen Begebenheit. Ihr Bruder war in einer Pflegefamilie untergebracht worden, nachdem ihre Mutter ihn körperlich auf unangemessene Weise bestraft hatte – und dennoch hatte man BETTY dort gelassen. Das Mädchen, für ihr Alter sehr klein – möglicherweise durch Stress oder Unterernährung oder beides –, war vielleicht das klügste und talentierteste aller Kinder, die ich bei dieser Arbeit kennengelernt habe. Aber ihre Situation war so, dass die Stärken, die sie hatte, fast zwangsläufig durch die toxische Umgebung gefiltert wurden.

BETTY lernte schon früh, dass Angriff die beste Verteidigung ist. Sie war hochgradig manipulativ, ihre Ausdrucksweise hätte selbst einen Seemann erröten lassen, und sie neigte oft zu körperlicher Aggression. Schon in so jungem Alter hatte sie eine verblüffende Fähigkeit, Schwachstellen anderer zu erkennen. Einmal wurde sie im Lauf eines gerichtlich angeordneten, beaufsichtigten Kontrollbesuchs (oft eine demütigende Erfahrung für alle beteiligten Parteien) gewalttätig und wurde von meiner Supervisorin zurückgehalten. BETTY schrie sie an: »Du Fotze! Dein ganzes Leben hast du noch nie jemandem auch nur einen Tag geholfen!« Meine Supervisorin blickte mich mit offenem Mund an. Das kleine Mädchen hatte die größte Unsicherheit, die mitfühlend-engagierte Sozialarbeiter*innen überhaupt haben können, herausgegriffen und zugeschlagen. Sie tat es wie jedes extrem aufgeweckte Kind, das darauf hin konditioniert war, zu verstehen, dass sein Überleben ständig in Gefahr war. BETTYS tägliches Leben hatte sie darauf vorbereitet.

Bevor wir die Neuropsychologie unserer Gefühle im Zusammenhang mit aktiver Traumatisierung weiter erkunden, muss eines einfach gesagt werden: Kinder können keine Fehler machen. Kinder können nicht im Unrecht sein. Sie leben nicht mit einer Einstellung, in der richtig oder falsch existiert; keiner von uns wurde mit einer solchen Einstellung geboren. Vielmehr zwingen wir Erwachsenen ihnen ein solches Denken auf. Kinder leben in einer Welt spontaner, gedankenloser Impulse. Alles, was sie überhaupt tun, ist, die Lebenskraft in ihrem Inneren zu erkunden und spontan zu äußern. Sie wissen noch nicht, was diese Welt und dieses Leben ist, und ihre einzige Möglichkeit, es herauszufinden, besteht darin, es mit dem Versuch- und-Irrtum-Prinzip zu probieren. Und sie werden dadurch konditioniert, dass das Ergebnis ihres Tuns – du ahnst es schon – zu einer Steigerung ihres subjektiven Gefühls der Sicherheit, Belohnung und Zugehörigkeit führt – oder auch nicht.

Es mag zwar verlockend sein, BETTY als »Problemkind« zu bezeichnen, wie es so oft geschieht, doch solche Urteile sind irreführend. Sie sind nicht im Einklang mit dem, wer und was wir Menschen in Wahrheit sind, mit unserer angeborenen Weisheit und mit der unvorhersehbar vielfältigen Art, wie diese Weisheit geformt werden kann. BETTY handelte in Wirklichkeit, ohne dass es ihr bewusst war, ohne es zu wollen. Es geschah instinktiv, getrieben von biologischen Notwendigkeiten. Als Kind galt das auch für dich und mich, egal wie viel Unwahres, Falsches wir verinnerlicht hatten.

WIR SIND GEZWUNGEN, TRAUMATA ZU WIEDERHOLEN

IN SEINEM BUCH Trauma-Heilung – Das Erwachen des Tigers erzählt PETER LEVINE, der vielleicht bedeutendste Trauma-Experte weltweit, von einem Fernsehbericht, in dem gezeigt wurde, wie Gepardenjunge von einem räuberischen Löwen gejagt wurden. Der erwachsene Löwe entdeckte die Jungen, während die Gepardenmama unterwegs war, um ihnen das Mittagessen zu holen. Der Löwe jagte sie und war schneller als die Jungtiere, aber diese waren beweglicher. Es gelang ihnen, dem Räuber zu entkommen, indem sie im Zickzack hin- und herliefen und den schnellen Löwen vom Kurs abbrachten. Schließlich schafften es die Jungen, einen Baum hinaufzuklettern, für den das erwachsene Raubtier zu schwer war, und sicherten so ihr Überleben.

Was dann geschah, ist jedoch sehr aufschlussreich. Als die bedrohliche Bestie verschwunden war, stürzten die Jungtiere vom Baum und inszenierten noch einmal, was sie gerade durchgemacht hatten. Sie wechselten sich ab, wobei eines von ihnen das Raubtier spielte, während die anderen Gepardenkinder im Zickzack vom Spiellöwen weg und auf den Baum kletterten. Immer wieder probten und durchlebten sie diese Erfahrung noch einmal. Das hatte, so können wir plausibel schließen, zwei entscheidende Vorteile. Zum einen war es für sie ein Weg, sich von dem intensiven Stress, beinahe gefressen worden zu sein, zu befreien. Und zweitens: Sie nutzten den Stress produktiv – um ihre wichtige neue Überlebenstechnik zu üben. Der durch die schreckliche Erfahrung erzeugte Stress dient letztendlich einem außergewöhnlich adaptiven Zweck und half ihnen, sich besser an ihre Lebensumstände anzupassen.

Wenn es um uns menschliche Tiere geht – egal, ob wir in einer Sozialwohnung oder in einer Villa leben –, müssen wir aus biologischen Gründen gezwungenermaßen traumatische Erfahrungen wiederholen. Entscheidend ist, zu verstehen, dass nicht jeder Stress in traumatischen Stress und nicht jeder traumatische Stress in eine posttraumatische Belastungsstörung mündet. Das, was in der Zeit nach intensiven widrigen Erfahrungen passiert, ist enorm bestimmend dafür, wie sich alles im Nervensystem konsolidiert. Wenn wir in der Lage sind, den Stress abzubauen, ihm einen Sinn zu geben (zum Beispiel, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wird), wenn wir im Anschluss an das Erlebnis Anerkennung erhalten und einfühlsam gewürdigt werden, verändert das die Art und Weise, wie sich das Ereignis im Körper auswirkt. Wenn wir dagegen verurteilt werden und zu hören bekommen, es sei unsere Schuld gewesen oder wir würden uns das nur ausdenken oder übertreiben, dann wird das Ereignis sich wahrscheinlich auf ganz andere Weise im Körper festsetzen. Wenn uns bei jedem Gang durch die Straße hinterhergepfiffen oder -gerufen wird oder wir damit zu kämpfen haben, dass wir zu den Menschen mit Behinderung bzw. zu den anders Befähigten gehören, wenn wir in Armut leben müssen und von Gewalt umgeben sind oder wenn wir nach einem traumatischen Erlebnis mit sonstigen anhaltenden Stressfaktoren konfrontiert sind, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Erlebnis akuten traumatischen Stress oder PTBS nach sich zieht.

All das führt mich zu der Frage: Wo in unserer sogenannten menschlichen Zivilisation gibt es Orte, an denen wir den Stress solcher beängstigenden Erfahrungen abbauen können? Orte, an denen wir den Erfahrungen einen Sinn geben können? Um wahrheitsgemäß darüber zu sprechen, während man uns einfühlsam und mit offenen Armen begegnet? Schon die meisten privilegierten Menschen haben es in unserer Welt schwer, solch herzliche Orte zu finden, ganz zu schweigen von einem fünfjährigen farbigen Mädchen aus einer New Yorker Sozialwohnungssiedlung. Wo sonst kann sich also dieser natürliche Instinkt, das zu wiederholen, was uns in Schrecken versetzt hat, Ausdruck verschaffen? Wenn du dir vorher ein Urteil über BETTY und ihr Verhalten gemacht hast, bitte ich dich, es unbedingt noch einmal zurückzunehmen und die kurze Zusammenfassung ihres Werdegangs jetzt noch einmal zu lesen.

Mein ausdrücklicher Auftrag als Sozialarbeiter – der Mutter zu helfen, Kontakt zu (Beratungs-)Stellen für psychische Gesundheit und Arbeitsvermittlung aufzunehmen, sie dabei zu unterstützen, bessere Erziehungspraktiken zu erlernen, und ihr zu helfen, aus der Armut herauszukommen – erwies sich als Fantasievorstellung. In meinen anderthalb Jahren Arbeit mit dieser Familie verbesserte sich gar nichts. Es ging nur weiter abwärts. BETTYS alleinerziehende Mutter war eine lesbische PoC-Frau, die selbst in Wohnsiedlungen in der Bronx aufgewachsen war.

Sie hatte schweren sexuellen Missbrauch überlebt und war eine trockene Alkoholikerin, die für ihre Traumata oder ihre Sucht niemals eine echte Therapie erhalten hatte. Wie sollte sie einen Job finden, wenn sie zusätzlich zu ihrem Gefühlschaos eine Tochter hatte, die kein Kinderbetreuungsdienst aufnahm, und einen Sohn mit einer Autismus-Spektrum-Störung, der von ihr getrennt in einer Pflegefamilie lebte? Die für die Pflegeunterbringung zuständige Stelle verlangte, dass sie zweimal wöchentlich für Besuche unter Aufsicht, endlose Gerichtstermine und wöchentliche Hausbesuche zur Verfügung stehen sollte; weiterhin sollte sie bei den ärztlichen Untersuchungsterminen ihres Kindes dabei sein und außerdem ihre eigenen wöchentlichen Therapiesitzungen und Elternkurse einhalten. Ich habe gesehen, wie Mütter angesichts solcher Anforderungen ihre Arbeit verloren haben. Ich habe auch erlebt, dass Eltern ihre Kinder nicht zu sich zurückholen durften, weil sie nicht an diesem zeitintensiven, seelisch erschöpfenden Verfahren teilnehmen konnten; sie hätten sonst ihre Arbeit verloren und hatten noch andere Kinder zu versorgen.

Diese Frau hatte auch keinen Einfluss darauf, wann die meisten dieser Aktivitäten geplant waren, und alle wurden von ausgebrannten, unterbezahlten Sozialarbeiter*innen ausgeübt, die Berufseinsteiger*innen waren. Und nach alldem musste sie nach Hause gehen und versuchen, sich um ein hochaggressives kleines Mädchen zu kümmern, das nur zu gut wusste, dass ihre Mutter sie nicht vor der Verzweiflung und Gewalt ihrer Umgebung schützen konnte. Diese schönen, aufgeweckten, lustigen, kreativen Menschen – voller Gefühl und Schwung, so wie du und ich – hatten beide keine Chance, ihr Trauma zu verarbeiten und ihre Situation zu verbessern, ganz zu schweigen davon, den Sohn und Bruder aus der Pflegefamilie nach Hause zu holen.

Das ist einer von bis zu fünfzehn Fällen, um die ich mich damals kümmern musste. Und alle waren ebenso komplex und schrecklich. Gegenwärtig gibt es allein in New York City – der Finanzhauptstadt der Welt – etwa 17.000 ähnliche Fälle wie diesen.

DIE GESCHICHTE VON BETTY UND IHRER FAMILIE gehört zu denen, die in unserem angespannten politischen Diskurs tendenziell polarisieren. Du kennst meinen Standpunkt zu dieser Frage, aber ich weiß, dass viele andere die Geschichte lesen und ganz andere Schlussfolgerungen ziehen würden: Verschwendung von Steuergeldern in Verbindung mit ineffektiven Regierungsprogrammen, der hohe Preis der zerrütteten Familien. Im nächsten Kapitel möchte ich genau auf diesen Bereich näher eingehen – nicht auf die Geschichten selbst, sondern darauf, wie wir Geschichten interpretieren. Was passiert in unseren Köpfen, wenn ein Mensch oder eine Gruppe anders wirkt oder allem Anschein nach sogar in einer anderen Realität lebt? Durch welchen neuropsychologischen Mechanismus wird Anderssein zu einem Auslöser von Voreingenommenheit und Hass?